ICH hatte keine Probleme, meine Familie hatte keine Probleme, die Familie meines Mannes – sein Bruder – war in Schwierigkeiten.

Unsere kleine Familie lebte vor ca. 10 Jahren in Dagestan/Tschetschenien, einem Teil von Russland, der den Krieg nicht so stark zu spüren bekommen hatte. Wir wohnten im Haus meiner Schwiegermutter Assia.

 

Mein Schwager war im 1. und 2. Krieg gegen Russland ins Feld gezogen und wurde 2002 in einem großen Theater in Moskau nach einer Geiselnahme unter vielen anderen Menschen tot aufgefunden. Ich hatte ihn als verantwortungsbewussten, hilfsbereiten Menschen kennen gelernt, wir wussten nicht, dass er so stark gegen das russische Regime gekämpft hatte. Ein Regime, das die Annahme vertritt, dass jeder einzelne Mensch einer Familie die gleiche Ideologie vertritt. Mein Schwager wollte seine Heimat Tschetschenien nicht untergehen sehen – er wollte auch da „helfen“ mit seinem Land unabhängig zu werden.

 

Von diesem Zeitpunkt an, begann die Verfolgung sämtlicher Familienmitglieder meines Mannes und damit auch meine. Mein Mann und sein 2. Bruder wurden mehrere Male von der Polizei festgenommen und eingesperrt. In unserem Fall hatte das enorm korrupte System aber seine Vorteile, zweimal konnten wir durch Zahlungen von jeweils $ 5000,-- meinen Mann wieder aus dem Gefängnis befreien.

 

Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Mann nicht mehr zuhause geschlafen, er hatte sich immer  irgendwo anders versteckt. Eines Tages hatten wir erfahren, dass er vom Geheimdienst gesucht wird. Es war sofort klar, dass die Bestechlichkeit ein Ende hatte und er bei einer Festnahme nicht mehr aus dem Gefängnis entlassen werden würde. Wir hatten auch erfahren, dass die Polizei scheinbar nicht genau wusste, nach wem sie suchen sollte und einen Nachbarn mit ähnlichem Namen abgeholt hatte.

 

Dieses Ereignis zwang mich dazu, alle unsere Möbel und mein „Gold“ (Goldschmuck einer Muslima, den sie zur Hochzeit bekommt und der ihr bei einem etwaigen Dasein ohne Ehemann, das weitere Leben ermöglicht) innerhalb eines Tages zu verkaufen. Leider konnte ich für die Sachen nur den halben Kaufpreis erzielen. Niemand durfte bis zuletzt von unserer Flucht wissen.

 

Die Entscheidung, welche Habseligkeiten wir für die Flucht zusammenpacken würden, war sehr schwierig für mich. Ich habe zwei Taschen mit Kleidung, eine Tasche mit Essen u. einen Wasserkanister mitgenommen. Meine Eltern wollten nicht mitkommen, ich konnte es kaum ertragen, sie zurückzulassen.

 

Zu Beginn unserer Flucht wusste ich nicht, wo Österreich war, ich dachte, dass wir in zwei Tagen da sein würden. Mit dem Zug reisten wir durch die Ukraine. Dann mussten wir weiter in Richtung Slowakei. Gemeinsam mit drei weiteren Familien waren wir zu Fuß 3 Tage in sehr unwegsamem Gelände unterwegs. Mein Mann hatte fast die ganze Zeit über den Rucksack und unseren kleinen Sohn auf den Schultern. Mit meinem Rucksack und einem Wasserkanister trug ich meistens noch ein kleines Baby, das dreimonatige Mädchen einer Frau mit Zwillingen, die sehr viel jammerte. Wegen der großen Unruhe wurde der Schlepper mit der Zeit immer ungeduldiger, einige Erwachsene, aber vor allem die Kinder weinen vor Müdigkeit, Erschöpfung und Unzufriedenheit. In einem Waldstück ließ er uns dann fünf Stunden allein zurück, seine Angst vor Festnahme und Gefängnis war sehr groß. Meine größte Sorge war, dass er uns im Stich lassen würde, wir aufgegriffen und zurück geschickt würden. Letztendlich ließen wir alle unsere Taschen und Rucksäcke mit Kleidung in dem Waldstück zurück und gingen nur mit Wasser und Essen weiter.

 

Die Bedingungen in dem Lager in der Slowakei waren sehr unzureichend. Wir waren in einem großen schmutzigen Raum mit einigen anderen Familien untergebracht, die Verpflegung war unzureichend und schlecht, alles war abgesperrt. Trotzdem waren wir sehr froh, erstmal in Sicherheit zu sein. Alles war besser, als in Tschetschenien im Gefängnis zu sein.

 

Nach einem Monat entschlossen sich mein Mann und ich, aus dem Lager wegzugehen und in Österreich Asyl zu beantragen. An der Grenze wurden wir mit Bussen abgeholt und nach Traiskirchen gebracht. In unserem ersten Monat nach der Erstaufnahme habe ich von der Außenwelt wenig mitgekommen. Erst als wir eine kleine Wohnung in St. Pölten zugewiesen bekamen, konnte ich erstmals die das neue Land und die Menschen erstmals wahrnehmen.

 

Am Anfang war ich der Meinung, dass wir nicht lange im Ausland bleiben würden, dennoch haben wir uns gut eingerichtet und fühlen uns wohl. Mein Mann hat eine gute Arbeit, er hat aber deshalb auch oft wenig Zeit für die Familie. Mit dem Wohlstand war auch die Unzufriedenheit gestiegen – das Leben sollte immer besser werden.

 

Viele von uns wollen im Ausland bleiben, ich aber befinde mich in einem Provisorium in Österreich und möchte irgenwann wieder zurück. Ich habe die Hoffnung von einer besseren Zeit in meiner Heimat und einem Leben ohne Krieg und ohne Schikanen der Polizei.

 

 

 

Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Geiselnahme_im_Moskauer_Dubrowka-Theater