Flucht meiner Urgroßmutter aus Tschechien nach Österreich

 

Meine Uroma Berta Schneider (geb.1906) wuchs als Sudetendeutsche im ehemaligen Mähren auf einem Bauernhof auf. Sie musste schon früh in der Küche helfen. Sie war ein kräftiges Mädchen mit langen (und vielen) blonden Haaren und Sommersprossen so groß wie Fingernägel. Sie hatte viele Geschwister und musste sich bald um den Haushalt kümmern. Sie kochte für insgesamt 20 Personen, da sie neben der Familie auch die Knechte und Mägde zu versorgen hatte.

Ihren späteren Mann, Friedrich Seifert (geb. ca. 1898) lernte sie am Bahnhof kennen. Er war ein ganz anderer Typ als sie. Er hatte dunkle Locken. Es war Liebe auf den ersten Blick, zumindest für ihn. Er rief, von ihren Doppelzöpfen angetan, laut, sodass sie es hören konnte: „Die Blonde da, das wird meine! Die werde ich heiraten.“ Ihre Antwort: „Da könnte ja jeder daherkommen!“ Trotzdem heirateten die beiden.

Friedrich war Schlosser und kam für Bertas Eltern nicht in Frage. Sie wurde enterbt, aber mit seiner neu gegründeten Schlosserei in Vierzighuben bei Zwittau (ca. 60 km nördlich von Brünn) kamen sie dennoch über die Runden. Dort oblag meiner Uroma die Versorgung der Gesellen und Lehrlinge, die im selben Haus wohnten. Die Seiferts bekamen drei Kinder; Meine Oma Waltraud (geb. 1928) war die mittlere und die einzige Tochter. Der Großvater zog meine Oma auf, weil ihre Eltern kaum Zeit hatten. Leider starb er, als sie vier Jahre alt war, im Jahr 1936 an Magenkrebs. Als der Krieg ausbrach, wurde der älteste Sohn eingezogen und der jüngste mit 14 Jahren von den Russen ins Bergwerk verschleppt. Sämtliche Männer mussten einrücken. Meine Uroma und meine Oma bleiben allein in der Schlosserei zurück.

Eines Tages stand ein Russe vor Tür. Er hatte ein Maschinengewehr im Anschlag und sagte: „Du morgen weg, das Haus gehört jetzt uns. Wenn du nicht weg bist, bist du tot.“ Das war im Jahr 1944/45. Meine Oma hatte sich im Hühnerstall versteckt.

Gezwungenermaßen bereiteten sich meine Uroma und meine Oma auf die Flucht vor, so gut es ging: Sie nahmen Wertsachen mit, unter anderem zwei Sparbücher, die noch bei uns am Dachboden liegen. Sie nähten sich Geld in jede Tasche und in den Saum ihrer Gewänder ein. Um möglichst viel mitnehmen zu können, trugen sie drei bis vier Schichten Kleidung, jede noch einen Rucksack und eine Decke. Zu Fuß machten sie sich auf Richtung Wien. Dort hatten sie Bekannte, bei denen sie hofften, unterkommen zu können.

Auf dem Weg dahin kam es zu einem weiteren traumatischen Erlebnis mit der russischen Besatzung. Ein russischer Fahrer bot ihnen an, sie mitzunehmen. Sie trauten ihm nicht, wussten aber, dass sie eigentlich keine Wahl hatten. Zufällig fuhr hinter dem russischen Wagen ein amerikanischer, der die Russen verscheuchte.

Irgendwie schafften die zwei Frauen es nach Wien. Dort kamen sie bei den Bekannten unter und schliefen am Küchenfußboden. Es gelang ihnen, innerhalb einer Woche Arbeit zu finden. Sie erfuhren von einer Cousine, Frau Demel, die in Euratsfeld lebte. Meine Oma schrieb ihr einen Brief, um zu fragen, ob es für sie Arbeit auf dem Land gäbe. (Damals mussten Frauen ein Pflichtjahr absolvieren.) So kamen Berta und ihre Tochter nach Euratsfeld und Amstetten. Meine  Uroma fand eine Beschäftigung als Putzfrau im Amstettner Krankenhaus. Sie machte schließlich eine Ausbildung zur Krankenschwester und -pflegerin. Meine Oma lernte auf einem Bauernhof in Euratsfeld meinen Opa, Florian Koblinger kennen, den sie 1948 heiratete.

Nach dem Pflichtjahr wohnte sie in Allersdorf in Baracken, welche ursprünglich für KZ-Insassen gebaut worden waren. In diesen Unterkünften wohnten hauptsächlich ausgebombte Familien. Mein Opa wurde beim Finanzamt angestellt. Er nahm zusammen mit Verwandten einen Kredit auf und baute ein Haus in Eggersdorf.